Lasst uns Image-Berater von Kindern und Jugendlichen sein!
Die Pandemie hat uns allen bis heute viel abverlangt. Dass die Kinder und Jugendlichen schlichtweg die Verlierer der vergangenen 15 Monate sind, wurde schon hinlänglich diskutiert. Doch jetzt müssen die Kinder und Jugendlichen endlich frischen Wind spüren!
Ehrlich, ich mache mir Sorgen. Sorgen um die Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Damit bin ich weder alleine noch früh dran. Schon im letzten Jahr, zu Beginn der Pandemie, waren die ersten Stimmen zu hören: Dass OP- und Stoffmasken eine Zumutung für Kinder und Jugendliche seien, wenn sie mit ihnen den Schulalltag meistern müssten. Das dies erst der Anfang einer stetig mieseren Situation war, wissen wir nun. Lockdown, Schulschließungen, Kita-Notbetrieb, digitaler Unterricht ohne digitale Plattformen, es ging immer so weiter.
Ich habe mich, wie viele damals, zurückgehalten mit öffentlichen Bekundungen. Ich bin nicht so der Typ, der sich lauthals öffentlich beschwert. Dazu fühle ich mich weder persönlich berufen noch bin ich qualifiziert genug. Ich eigne mir lieber im Stillen Fakten an (ja, die gibt es noch!) und versuche, mir in komplexen Situationen statt einer engen Meinung eher ein breites Allgemeinbild zu verschaffen.
Aber nun bin ich wütend. Selbst für meine Verhältnisse ist jetzt das Ende des Tragbaren erreicht. Denn die Offenheit, mit denen die Rechte von Kindern und Jugendlichen auch gerade jetzt, wo die ersten Lockerungen gelingen, mit Füßen getreten werden, erschüttert mich. Dass Schulkinder in der Pandemie vermehrt Angststörungen und Depressionen entwickelt haben, wie es die jüngsten Studien gezeigt hat (hier), kann niemanden wirklich verwundern. Ein Schuljahr, das keines war, wird sang- und klanglos hingenommen. In Berlin öffnen angesichts der niedrigen Inzidenzen heute die Biergärten, die Museen und Freibäder. Die Schulen dagegen bleiben bis zu den Sommerferien im Wechselunterricht. Warum? Zwei oder drei Tage die Woche Schule sind nicht genug. Im Gegenteil, denn ich bekomme von Teens gerade sehr häufig berichtet, dass der immer schon hohe Schulstress durch den Wechselunterricht nur noch angezogen hat. Gleich am ersten Schultag nach vier Monaten Lockdown schrieben einige Kids gleich mehrere Klassenarbeiten. Keine Zeit für ein „Wie geht es euch?“, für ein „Was brauchst / wünschst du dir gerade?“. Schulsport nur reduziert, von Yoga-Angeboten in der Schule wollen wir gar nicht erst sprechen.
Den Lehrern sind die Hände gebunden. Auch sie müssen in der Pandemie viel mehr leisten, als im regulären Arbeitsvertrag steht. Eine Freundin, sie ist Lehrerin, wunderte sich zu Beginn doch sehr über die Ansage, die Kinder bei den Schnelltests in der Schule zu beaufsichtigen. In den Testcentern würde mit Visieren und Schutzanzügen hantiert, sie hätte noch nicht mal Flächendesinfektion, geschweige denn Handschuhe. Mittlerweile klappt es ganz gut. Und dennoch: Ich ziehe den Hut vor allen Lehrern.
Ein bisschen mehr Respekt vor den Jugendlichen, bitte!
Und ich ziehe den Hut vor allen Teenies. Die ewige Berichterstattung von Jugendlichen, die im Park zu Grüppchen zusammen sitzen, sich nicht an die Ausgangssperren halten, illegale Parties feiern und damit totale Pandemie-Treiber sind, fand ich wirklich grauenhaft. Monatelang wurde über Kids und Teens nur als die Generation berichtet, die potentiell Oma und Opa anstecken kann. Jugendliche müssen raus, müssen über die Stränge schlagen, brauchen die Peergroup. Und nun: Festgetackert in der Wohnung, mit Mama und Papa. Yeah. Das Schlimmste ist wahrscheinlich sogar, dass sich die allermeisten Teens an die Bestimmungen halten. Und dadurch Ängsten und Depressionen erst die Tore geöffnet werden. Oder: Sie treffen sich dennoch mit Freunden, aber zugleich nagt das schlechte Gewissen an ihnen. Wie auch immer: Die Teens dürfen weder in die Schule, noch raus an die Luft. Sie können weder zum Klavierunterricht in die Musikschule, noch zum Kiffen in den Park. Und sie können insgesamt nur verlieren: schlechtere Noten, weniger Abenteuer, fieses Image. Heilige Scheiße. Wie gut, dass sie nicht wählen dürfen. (Ironie off).
Waschzwang und Vitamin-D-Mangel
Selbst die geliebte Tochter, behütet und total verständnisvoll, hatte im letzten Jahr zahlreiche Tiefpunkte. Es begann damit, dass die immer und immer wieder überall eingebläuten AHA-Regeln bei ihr einen regelrechten Waschzwang auslösten. Zu groß die Angst vor Corona-Viren an den Händen und in der Wohnung. Also wurde geschrubbt und gewaschen. Dann die neue Schulsituation: Mit dem digitalen Unterricht klappte es prima (die Gemeinschaftsschule stellte innerhalb kürzester Zeit eine funktionierende, digitale Plattform sowie Laptops für Kinder aus einkommensschwächeren Haushalten zur Verfügung), aber das Herumhängen im Zimmer wurde zur Hauptbeschäftigung. Freundinnen treffen nur Outdoor – ziemlich schwierig in der kalten Jahreshälfte. Also musste ein anderer Zeitvertreib her. Anfangs waren wir Eltern glücklich, dass es YouTube-Workouts waren, die der Tochter die Langeweile vertrieben. Mutter und Tochter kamen locker mit Squads, Jumps, Yoga-Flows und Planks über den Winter. Doch so langsam wurde aus dem Hobby der sportlichen Betätigung auch hier ein Suchten: Das Kind machte regelmäßig drei Workouts pro Tag und als wir auf die schleichende Sucht aufmerksam machten, gab es Tränen und großes Geschrei. Sie argumentierte, sie würde niemanden sehen können („auf Instagram machen alle Party und ich bin die einzige, die brav zuhause sitzt“) und der Sport wäre das einzige Mittel gegen die Langeweile. Zum Glück ist auch diese Phase vorbei und mit einem Mix aus Ablenkung. offenem Ohr und Gesprächen konnten wir das Extreme herunterdimmen. Was bleibt? Gähnende Langeweile (verständlich), häufige Wutausbrüche (verständlich) und ein richtig krasser Vitamin-D-Mangel. Da ist sie sicher nicht die einzige.
Wo sind die Image-Berater der Jugendlichen?
Was würde in der Wirtschaft mit einem, durch die Pandemie angeschlagenen Konzern wie der Lufthansa in dieser Situation geschehen? Ganz klar, er bräuchte erst einmal eine schöne Finanzspritze. Done. (Im Anschluss an die Staatssubventionen Personal zu entlassen, mag ein smarter, betriebswirtschaftlicher Move sein. Funktioniert nur in unserem Beispiel nicht.) Und dann bräuchte der Konzern dringend ein Team aus hochbezahlten Beratern, die dabei helfen, das ramponierte Image wieder aufzuhübschen. Wären die Kinder und Jugendlichen also ein Unternehmen: Hilfe wäre in Sicht. Ich sehe es vor meinen Augen: Urbane, coole Teenager und flächig tätowierte, dreadlock-tragende Zwanzigjährige werben – nein, nicht für ein Aktiendepot bei einer Bank. Sie werben für sich! „Hey, seht her: Wir können was! Nehmt uns ernst! Wir sind die Zukunft!“
Denn das ist es, was sie jetzt brauchen: Hilfe und Unterstützung. Konkrete Pläne und Perspektiven statt Gelaber und ständige Status-Quo-Analysen. Ein offenes Ohr. Und Kohle.
Dass eine Familien- und Jugendministerin ausgerechnet in diesen Tagen ihr Amt kündigt, mag schon ein recht tragisches Timing sein. Dass es statt einer Nachfolger:in, die sich mit Haut und Haar fvcking nochmal JETZT den Kids, den Familien und den Jugendlichen verschreibt, nur eine – in meinen Augen – abgeschmackte Notlösung gibt, ist indes mehr als tragisch. Oder was will die Bundesregierung uns mit der Ernennung der Justizministerin zur Familienministerin sagen? Was ist die Message in der Außenwahrnehmung? Dass das Amt der Familienministerin gerade JETZT so easy ist, dass es nicht viel Aufwand ist? „Kein Problem, ist – versprochen – nicht so viel zu tun, nach 15 Monaten Pandemie?“ „Die To-Do-List lässt sich sicher halbtags locker abarbeiten?“
Ich verstehe das nicht. Muss ich auch nicht. Daher sind wir nur noch mehr gefragt: Wir Eltern, wir Lehrende, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Egal, ob Kinderyogalehrer:in, Erzieher:in oder Sozialarbeiter:in: Lasst uns Zeit investieren. Und offene Ohren haben. Noch viel mehr als bisher. Den Kids und Teens die Möglichkeiten geben, sich auszutauschen, sich den Frust von der Leber zu reden. Mit hilfreichen Übungen zur Seite zu stehen. Sport, Nachhilfe oder was auch immer nötig ist, anzubieten. Ich sehe Väter, die Fußballteams zusammentrommeln. Mütter, die unprätentiös Tanzkurse im Park anbieten. Oder Online Gesprächsrunden anbieten. Outdoor-Yoga für alle! Lasst uns alle noch viel mehr als bisher zu Beratern der Jugend werden! Und so das ramponierte Image von Kindern und Jugendlichen nachhaltig stärken. Damit sie endlich, endlich wieder frischen Wind spüren!
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